Wenn ein Mensch…
… kurze Zeit lebt, sagt man, dass er zu früh geht.
Meine Oma, diese introvertierte Queen, hat jetzt wirklich sehr viel Ruhe.
Sie ist vor ein paar Wochen gestorben. In ihrer Wohnung. Ohne Schmerzen. Es war kein tragischer Tod, aber ein überraschender. Wir standen uns nicht wahnsinnig nah und haben uns nur zu Weihnachten und bei ein, zwei anderen Familientreffen gesehen. Sie war keine herzliche Frau, unkommunikativ, eher distanziert. Und weil uns genau das verbindet, möchte ich nicht wahrhaben, dass sie nicht mehr da ist.
Ich hätte ihr einfach gern noch ein bisschen zugeguckt. Und damit gleichzeitig einen Blick in meine Zukunft und Vergangenheit geworfen.
Oma konnte benutztes Geschirr keine drei Sekunden auf dem Tisch stehen lassen und war als einzige in unserer Familie immer pünktlich. Bei Familientreffen ist sie einfach nach maximal zwei Stunden ohne Angabe von Gründen gegangen. Reichte ja dann auch. Selbst bei der großen Hochzeitsfeier meines Bruders saß sie fernab vom Trubel im Garten und hat Zeitung gelesen.
Morgens – beziehungsweise vormittags, denn Oma war Langschläferin – aß sie Frühstück auf der Couch, mit dem Toaster direkt daneben. Ihre Tage verbrachte sie mit Spaziergängen durch Berlin, die Stadt die sie liebte und außer für einzelne Reisen nie verließ. Sie liebte Theater, las wahnsinnig viel, ging in Museen und auf Konzerte. Sie hat drei Kinder allein groß gezogen und nie geheiratet.
Sie hat so ihr Ding gemacht, ohne da ein Ding draus zu machen.
Von Frauen und vermutlich insbesondere von Großmüttern wird so eine Lieblichkeit erwartet, Fürsorglichkeit, Wärme, Geselligkeit. Oma war nie so. Sie hat ihr Leben lang ohne Mann gelebt und schien da auch kein Interesse dran zu haben. Geliebt werden war, glaub ich, nicht ihr Antrieb.
Und das war schon auch schwierig. Weil dadurch wenig Herzenswärme und Nähe entsteht. Weil es sich manchmal angefühlt hat, als wäre eine mir völlig unbekannte Frau an Weihnachten zu Besuch.
Aber insbesondere in den letzten Jahren habe ich das immer und immer mehr verstanden. Ich bin ja auch so. Ich bin ganz exakt genau so. Und ich weiß, dass es Schwierigkeiten verursachen kann. Es kann aber auch liebenswert sein, oder zumindest interessant. Es kann vorbildhaft sein. Als Frau keine Liebe zu brauchen, ist befreiend. Und feministisch.
Das wäre Oma komplett egal gewesen. Labels, meinte meine Mutter, waren meiner Oma nicht wichtig. Und auch diese Emotionalität, die manchmal mit Idealen einhergeht, war Oma eher suspekt. Mir ist das alles nicht so egal. Mein Idealismus ist auch immer emotional. Aber das, was ich da mache, ist meine Interpretation von dem, was Oma gemacht hat: Ein bisschen wenig nach den sozialen Normen schauen. Kultur schätzen. Bei mir bleiben. Sie hat diese Grundlagen gelegt, ich baue das weiter aus.
Was sie angefangen hat, trage ich weiter. Von einer Introvertierten zur nächsten.